"Es waren Soldaten, die an die Tür gedonnert haben und die befohlen haben, wir müssen jetzt einpacken und raus. Mir fällt noch was anderes ein, das war kurz davor: Meine Mutter hat diese Situation erwartet. Und es gibt da eine Erinnerung von mir, dass sie einige Kommilitonen eingeladen hatte und sie hatten sich einen Schwipps angetrunken, sie wollten sich die Angst vertreiben. Und ich fand das lustig, ich habe gedacht, es wäre sowas wie Silvester oder Karneval und wollte mitmachen und habe einen Damenschuh aus dem Fenster geworfen. Dann hat es gekracht, da war ein Scharfschütze gegenüber, dann haben sie mich vom Fenster weggerissen, das ist auch noch so eine Erinnerung."
"Dann kamen wir nach Velvary in ein sogenanntes Siechenheim. Das existiert auch heute, ich glaube es hat seinen Charakter etwas verändert indem es heute auch eine Art Kurheim ist. Damals war es unteranderem eine Art psychatrische Station mit Pflege auch für Sterbende und Sieche. Dort waren alle Arten von Menschen mit schweren Problemen untergebracht: Süchtige, „Schwachsinnige“, Alte, Sterbende. Kinder gab es dort keine, ich habe sie nicht vermisst. Ich habe mich angefreundet mit einigen Insassen, die haben sich gefreut, dass da ein Kind ist. Es ist für mich ein bisschen unklar, woran ich mich erinnere und was man mir erzählt wurde. Meine Mutter hat mit erzählt, jemand hatte sich als mein Patient begriffen, mein erster Patien sozusagen. Ein Süchtiger, der gesagt hat, er kann auf meine Gesellschaft nicht verzichten, sonst wird er rückfällig. Weil meine Mutter wollte das nicht, dass ich so viel mit ihm zusammen bin, sie hatte so eine nachvollziehbare Sorge, was da passieren könnte."
"Das ist eine der unangenehmsten Erinnerungen, die ich habe. Nicht nur weil es sehr lange gedauert hat, weil es sehr heiß wurde und weil ich nicht die Hand meiner Mutter festhalten konnte, die hatte Gepäck in der Hand und ich hatte Angst, dass sie verloren geht. Am Rand stand eine schreiende, kreischende Menschenmenge, die gerufen hat „Tod den Deutschen“, „Smrt Němcům“, die haben Steine geworfen und sind auch zum Teil handgreiflich geworden. Ich habe das nicht verstanden, ich wusste nur, ich muss mich festhalten. Das muss den ganzen Tag gedauert haben, ich glaube es war noch Vormittag als wir losgegangen sind, und wir kamen an, da war es schon dunkel in Strahov. Da sehe ich nur ein Tor vor mir, das war relativ klein für die große Menschenmenge, die da durch sollte, und da wurden wir dann durchgequetscht. Das ist auch ein Moment, der mir auch physisch in Erinnerung ist. Und dann haben wir uns erleichtert fallen lassen auf dem Grasboden in der Mitte. Dort haben wir die erste Nacht verbracht, es war nicht kalt, aber man hatte keine Decken, wir haben auf den Mänteln geschlafen."
„Ich vermute, dass die alte Geschichte zwischen uns stand, ohne das wir sie ausräumen konnten.“
Brigitte Halewitsch wurde am 21.04.1940 in Mährisch Ostrau geboren und verbrach eine beträchtliche Zeit ihrer Kindheit damit, von Ort zu Ort gesandt zu werden und sich somit an keinem Ort zuhause zu fühlen. Als Mitglied einer tschechisch-deutschen Familie zählte der tschechische Teil ihrer Herkunft nach Kriegsende nicht und sie wurde, wie viele andere Deutsche, mit ihrer Mutter im Lager in Strahov interniert, bevor ihre Mutter zur Zwangsarbeiterin in Bauernhöfen und Kliniken wurde und Brigitte sie bei ihren Arbeiten begleitete. Eines Tages beschloss ihre Mutter mit ihrer zu fliehen und ihnen gelang die Flucht über Niederbayern hinter Kofferwänden in einem Zug. Ihre Mutter hatte zuvor mit ihrem Vater, der die meiste Kriegszeit in Polen verbrachte, vereinbart, dass sie in Gießen wieder zusammen finden werden und das taten sie 1946 auch. In Gießen gewöhnte sich Brigitte schnell an ihre neuen Mitschüler:innen, die Lehrer:innen ließen sie aber nicht nur ein Mal wissen, dass sie „Fremde“ nicht mochten. Brigitte war ab ihrer späten Kindheit überzeugt, dass sie Psychoanalytikerin werden möchte, was sie retrospektiv verpflichtete, sich mit ihrer Geschichte und der ihrer Familie auseinanderzusetzen. Und nicht nur ihr beruflicher Werdegang zeigten ihr auf, dass es notwendig war, diese Geschichte nicht nur aufzuarbeiten, sondern sie auch zu teilen: Nach dem Prager Frühling bemühte sich Brigitte darum, in Prag Menschen zu finden, die ihr nicht nur zuhören, sondern auch glauben würden. Sie fand, dass junge Menschen ihr nicht glaubten, was in Strahov und danach passiert ist, und ältere Menschen rieten ihr darüber nicht zu sprechen. Heute lebt die gebildete Fachärztin für Psychatrie und Neurologie in Frankreich. Ihr ist es nach wie vor wichtig, dass diese Geschichte auch in die späteren Generationen ihrer Familie behandelt und verarbeitet wird.