Helmut Hempel

* 1938

  • Ja und dann haben wir eben hier in Warmensteinach neu Fuß gefasst. Aber von dem Zuzug hierher liegt mir noch (eine Sache) gut in Erinnerung. Der Vater hatte sich schon um Wohnraum bemüht und hatte bei einem Hausbesitzer die Zusage bekommen, er darf das Dachgeschoss, wo sich nur ein Zimmer befand, um weiteres auszubauen. Dazu hat ihm natürlich der Onken zu Baumaterialen mitverholfen und es war dann schon so weit hergestellt, dass wir praktisch die Wohnung in Besitz nehmen konnten. Aber da darf ich noch vorausschicken, wie wir hier angekommen sind, hat der Vater uns natürlich am Bahnhof abgeholt. Und unser Gepäck bestand ja nur aus einem Koffer und mit dem sind wir praktisch zu unseren neuen Bleibe. Jetzt war es aber so, sie wurden mit dem Koffer nicht gleich ins Haus gehen, sondern haben sich erst einmal ohne Gepäck angemeldet. Und ich musste eine Weile draußen auf den Koffer aufpassen. Und da passierte mir Folgendes – auf einmal kam ein Jugendlicher um die Hausecke, haute mit links und rechts Eins ins Gesicht und verschwand wieder. Das war meine Begrüßung in unserem neuen Wohnort. Ein Zeichen, dass wir nicht willkommen waren.

  • Schätzungsweise mussten es vier, fünf Kilometer gewesen sein bis zur Bahnstation und von der Bahnstation selber war es dann eben nicht mehr weit bis zur polnischen Grenze, wo wir eigentlich immer mit bewaffneter Begleitung praktisch unterwegs waren. Und die Wachposten haben natürlich aufgepasst, das keiner ausbricht oder sich davonmacht. Wir wurden eben dann an der polnischen Grenze dem dortigen Grenzpersonal übergeben und es ging dann weiter zu Fuß. Jedenfalls sind wir erst am späten Nachmittag, es konnte vielleicht schon sechs, sieben Uhr gewesen sein, in Zittau angekommen, wo wir dann todmüde uns am Straßenrand niedergelassen haben.

  • Früh am Morgen, um sechs Uhr, haben bewaffnete Männer an die Tür geklopft oder geschlagen: „Alles aufstehen!“ und den Befehl erteilt: „In einer Stunde musst ihr das Haus verlassen.“ Und wir durften nur das nötigste Hab und Gut mitnehmen. Und nachdem wir ja mehr oder weniger von der Grenze zu den neuen Grenzformationen nach Polen nicht weit weg gewohnt haben, wurden wir Richtung Oppelsdorf, das war damals die Bahnstation von Zittau nach Friedland, wurden wir dann losgeschickt. Ein Paar mitleidige Bewohner haben uns noch bis nach Grenze begleitet, haben uns auch Mut zugesprochen und gesagt: „Na ja, jetzt wartet einmal ab, vielleicht trifft es dann wieder noch zu wie 1938, bis die Grenzregelung geregelt ist und dann dürft ihr wieder heim.“ Dass es natürlich ein Druckschluss war, das hat sich aber erst hinterher herausgestellt.

  • In der Zwischenzeit kam ein Meldefahrer mit dem Motorrad und Beiwagen, fuhr vor unserem Haus vor und da war er natürlich neugierig und wollte nach unten schauen und stieß mit dem Kopf durch die Scheibe. Er war natürlich verletzt, hat geblutet, lies sich aber von den Frauen, sonst war sowieso niemand in dem Ort, verbinden. Und auf einmal hält er seine Pistole auf meiner Brust und sagt: „Du Adolf heißen?“ Zum Glück heiße ich Helmut. Das war wahrscheinlich auch wirklich mein Gluck. Er hat noch erwähnt, dass die SS in Russland kleine Kinder in Ofen gesteckt hat. Also das sind Erinnerungen, die mir bis heute noch so geblieben sind und die werde ich wahrscheinlich auch nicht loswerden.

  • Celé nahrávky
  • 1

    Weidenberg, SRN, 31.05.2019

    (audio)
    délka: 01:28:44
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Der Mensch fühlt sich mit seinem Geburtsort verbunden, aber als Heimat lässt der sich nach der Vertreibung nicht mehr bezeichnen

Helmut Hempel - der erste Schultag
Helmut Hempel - der erste Schultag
zdroj: pamětník

Helmut Hempel wurde am 14. August 1938 in der Gemeinde Kohlige geboren, heute ein Teil von Grottau (Uhelná, Hrádek nad Nisou), die unmittelbar nach der Annexion des Sudetenlandes administrativ dem nahen Wenzige (Václavice) angegliedert wurde. Der Vater Erich kam aus Sachsen und hatte, obwohl er nahezu sein ganzes Leben in Böhmen gelebt hatte, die deutsche Staatsbürgerschaft. Helmut kannte ihn in seiner Kindheit fast nicht, denn er musste gleich ab 1939 dienen und kehrte nach dem Krieg aus amerikanischer Gefangenschaft nicht mehr nach Böhmen zurück. Im September 1944 begann Helmut in die deutsche Schule in Wenzige zu gehen, die jedoch nur bis Mitte April 1945 funktionierte, als sie fast alle verließen. In Kohlige verkörperte man mit der bevorstehenden Kapitulation die sich zurückziehenden deutschen Soldaten, die vom 5. auf den 6. Mail bei den Nachbarn in der Scheune übernachteten, die ein sowjetischer Abfangjäger beschoss. Die Rote Armee kam am 8. Mai 1945 nach Kohlige. Nach ihrem raschen Abzug erschienen neue tschechische „Herrscher“ und die Hempels, als Familie von Reichsdeutschen, wurden bereits am 16. Juni 1945 als eine der Ersten vertrieben. Zu Fuß liefen sie den ganzen Tag über das Gebiet des neu verschobenen Polens bis ins deutsche Zittau (Žitava) und mussten nach einigen Wochen in einen neuen Abtransport, diesmal per Zug. Bis 1946 lebten sie dann in der ostdeutschen Gemeinde Pritschönau. Der Vater Erich versuchte nach der Freilassung aus der amerikanischen Gefangenschaft schwarz zu ihnen in die sowjetische Zone zu gelangen, wurde aber an der Grenze gefasst und für drei Tage festgehalten. Erfolgreicher war am Ende die Mutter, die in Gegenrichtung mit Hilfe bezahlter Schleuser 1946 mit dem kleinen Helmut ein die Besatzungszonen von einander teilendes Flüsschen in Thüringen nahe der Stadt Fulda überschritt. Die frisch vereinte Familie ließ sich schließlich im bayerischen Warmensteinach nieder, wo damals eine Siedlung mit Arbeitszentrum für Gablonzer Glasbläser entstand, zu denen Helmuts Onkel gehörte. In seiner Schmuckfirma lernte Helmut später, der nach einem kurzen Studienaufenthalt in Neugablonz (Nový Jablonec) nach Warmensteinach zurückkehrte und am Ende die Firma übernahm. Er heiratete 1964 eine ebenfalls aus der Tschechoslowakei Vertriebene. Die ältere Schwester Gertrud, die wegen ihrer Beziehung zu ihrem zukünftigen tschechischen Ehemann nicht vertrieben wurde, besuchte Herr Hempel das erste Mal 1966 und hält über Sprachbarrieren hinweg bis heute mit ihren Kindern Kontakt.